Am 26. April habe ich für die SPD-Bundestags-Fraktion eine spannende und informative Online-Podiumsdiskussion zur Zukunft unserer Energieversorgung geführt. Anlass war ein trauriges Jubiläum: die Nuklear-Katastrophe von Tschernobyl vor genau 35 Jahren. Wie Ihr wisst, hat Deutschland bei der Energieversorgung einen bemerkenswerten Doppelweg eingeschlagen: wir steigen aus der Kohle und aus der Atomenergie aus. Nächstes Jahr gehen die drei letzten Atom-Reaktoren vom Netz. Und spätestens bis 2038 ist auch der Kohleausstieg vollendet.
Dieser Doppelweg verunsichert viele Menschen. Werden wir auch in Zukunft genug Strom haben, ist eine häufig gestellte Frage. Kritiker halten diesen Doppelweg für gewagt. Sie empfehlen, die Atomkraftwerke weiterhin am Netz zu lassen. Auch in den Medien liest man diesen Vorschlag immer wieder. Und es entsteht der Eindruck, dass es Irrsinn sei, künftig auf Atomenergie zu verzichten. Wie sieht sie also aus, die Energieversorgung der Zukunft? Hat die Atomenergie eine „Renaissance“ verdient? Diese und weitere Fragen habe ich meinen Diskussionsteilnehmern in der Podiumsdiskussion gestellt, die ihr euch hier in ganzer Länge ansehen könnt.Meine 5 Diskussionsteilnehmer waren:
- Nina Scheer, Stellvertretende Sprecherin der AG Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit der SPD-Bundestagsfraktion
- Mycle Schneider, Atom- und Energiepolitik-Berater und Herausgeber des alljährlichen „World Nuclear Industry Status Report“
- Luca Samlidis, Fridays-for-Future-Aktivist
- Michael Müller, Bundesvorsitzender des Umweltverbandes „Naturfreunde Deutschlands
- Rita Schwarzelühr-Sutter, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesumweltministerium
Wer sich einen Überblick über die Antworten meiner Gäste verschaffen möchte, liest hier einfach weiter. Hier kommen die Antworten auf meine Top-10-Fragen, damit ihr euch selbst ein Urteil bildet, wie die Politik eine intelligente und verantwortungsbewusste Energieversorgung gestalten sollte.
10 Fragen zur Atom- und Energiepolitik
In Deutschland gegen nächstes Jahr die letzten 3 Atomreaktoren vom Netz. Spätestens 2038 soll auch der Kohle-Ausstieg beendet sein. Ist dieser Doppelausstieg energiepolitischer „Irrsinn“?
Nina Scheer: Er ist kein Irrsinn, sondern er ist ein ganz klarer Auftrag an uns alle, dass wir keine Verzögerung mehr in Kauf nehmen können beim Ausbau Erneuerbarer Energien und dem Umstieg auf dieselben, inklusive dem Ausbau von Speichern und Netzen, die man für den kompletten auch systemischen Umstieg auf die Erneuerbaren braucht. Wer da das Wort Irrsinn in den Kontext bringt, der ist auf dem Pfad der Verzögerung unterwegs. Und insofern gilt es, politisch gegenzuhalten und zu sagen: Nein, hier ist nicht Verzögerung gefragt, sondern die Beschleunigung der Energiewende.
Anders als Deutschland halten viele Länder noch immer an der Atomkraft fest. Sie planen sogar, neue Anlagen zu bauen. Wie ist dieser Trend einzuordnen?
Mycle Schneider: Wenn wir uns beim Jahresbericht an die Auswertung der verschiedenen Planungen und Projekte und realen Situationen in den verschiedenen Ländern heranmachen, dann stellen wir immer wieder fest, dass es zwar viele Pläne gibt. Aber dass das meiste davon wirklich Hirngespinste sind. Es hat sich gezeigt, dass im Laufe der Jahrzehnte sehr wenig Länder das umgesetzt haben, was irgendwann mal in den Planungen stand… In der Realität vor Ort ist wirklich sehr wenig passiert im Verhältnis zu dem, was ursprünglich vorgesehen war.
Rita Schwarzelühr-Sutter: Wenn wir einen finnischen Reaktor angucken, wie Olkiluoto mit dem Reaktorblock 3, der wird seit 2005 gebaut. Der ist jetzt in der Testphase. 15 Jahre, wenn es denn reicht, für so einen Bau. Da haben wir den Vorlauf noch gar nicht… Wie soll das gehen? Wir brauchen bis 2030 hier eine Entlastung bei den Treibhausgasen und können nicht warten, bis solche Anlagen irgendwann mal am Sankt-Nimmerleins-Tag fertig sind. Mal von der Nachhaltigkeit ganz abgesehen. Weil: keiner will den Müll.
Können privatwirtschaftliche Investoren ohne Subventionen vom Staat mit der Atomenergie Geld verdienen?
Mycle Schneider: Unter marktwirtschaftlichen Bedingungen kann man heute kein Atomkraftwerk mehr bauen… Das ist übrigens völlig egal, wo das ist… Ob das in China ist oder in der Türkei, in Deutschland, in England oder sonst irgendwo: Es geht nicht mehr! Das heißt, es geht nur über irgendeine Form der Subvention…
Sind Mini-Akw eine Alternative?
Mycle Schneider: Wie soll denn das gehen? Den Skaleneffekt kann man dann nur über die große Menge reinholen. Man müsste hunderte von diesen Maschinen bauen, das ist völlig absurd… Wir haben keine Zeit für solche Spielereien. Wir haben weder das Geld noch die Zeit zu verplempern mit solchen Abenteuern.
Nina Scheer: Ich kann doch nicht sehenden Auges in Technologie-Entwicklungen gehen wie beispielsweise diese kleineren Atomkraftwerke, die da jetzt propagiert werden, wenn ich klar weiß, dass das auch ökonomisch ein Desaster ist… Man begibt sich gesellschaftlich in Technologie-Abhängigkeits-Pfade, aus denen man nicht so schnell wieder herauskommt. Das darf energiepolitisch nicht unter der Prämisse „Klimaschutz“ laufen. Weil es einfach eine Nebelkerze ist, hinsichtlich der Verantwortung, die man energiepolitisch insgesamt zu tragen hat.
Welche Motivation haben Länder wie die Türkei, mit Hilfe von Russland ein Atomkraftwerk zu bauen, wenn es unwirtschaftlich ist?
Mycle Schneider: Wenn der Herr Erdogan sich zusammensetzt mit dem Herrn Putin, dann werden die nicht über irgendein Atomkraftwerk nur sprechen. Sondern da geht’s um ganz andere Geschichten. Da geht es um Geopolitik. Da geht es vielleicht um langfristige Abkommen, um Erdgas. Da geht’s vielleicht um das Verhältnis zur NATO. Da geht es vielleicht um Syrien. Was wissen wir denn schon? Aber mit Sicherheit geht es nicht um Energiepolitik. So viel steht fest… Es ist auch interessant zu wissen, dass 9 von 10 Anlagen entweder in Atomwaffenstaaten in Betrieb gegangen sind oder von Firmen gebaut worden sind, die von Atomwaffenstaaten kontrolliert werden… Es gibt keine energiepolitischen Beweggründe mehr, ein Atomkraftwerk zu bauen.
Warum wird die Atomkraft trotzdem am Leben gehalten, wenn Wirtschaftlichkeit offenbar keine Rolle spielt?
Michael Müller: Die Atomenergie ist 1938 am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie entwickelt worden von Otto Hahn und Fritz Straßmann. Und kurze Zeit später begann der 2. Weltkrieg. Und es wurde zum Wettlauf, ob man die Atomenergie nutzt oder nicht nutzt… Vier Staaten der Welt haben versucht, die Atomkernspaltung für militärische Zwecke zu nutzen. Auch in Deutschland war das so. Mitte der 50er Jahre wollte der Atomminister Franz-Josef Strauss auch mit Rückendeckung von Konrad Adenauer die Atomkernforschung nutzen, um militärisch aufzurüsten. Denn Adenauer misstraute den Amerikanern im Ernstfall und wollte sozusagen eigene militärische Stärke über Atombomben herstellen… Auch in Schweden war der Anfang ein militärischer Grund. So hat sich das überall hochgeschaukelt. Wenn Sie beispielsweise in Frankreich sind und im Ministerium über Energiepolitik reden, sitzt da immer einer vom Militär dabei.
Nina Scheer: Die Verflechtung zwischen militärischer und ziviler Nutzung, die ist offenkundig bei vielen Staaten gegeben… Wenn man Atomwaffen hat, hat man ganz offenkundig auch ein Bestreben, auch in der zivilen Nutzung zu bleiben… Das ist auch ökonomisch betrachtet irgendwo denklogisch. Weil, wenn man sich mal überlegt, man hat Atomwaffen und man muss dafür auch Know-how zur Verfügung stellen… ist es naheliegend, diese Kosten, die dabei entstehen, auch auf andere Bereiche mit umzulegen. Und dann ist man natürlich ganz schnell in einem Festhalten an der zivilen Nutzung mit dabei…
Es fällt auf, dass in letzter Zeit verstärkt versucht wird, der Atomenergie einen grünen Anstrich zu verpassen. Was sagen Sie zu der Aussage, dass man mit der Atomkraft das Klima retten kann?
Mycle Schneider: Wenn ich heute einen Euro in Atomkraft stecke, dann trägt das zur Klimakatastrophe bei. Aus einem ganz einfachen Grund: wenn ich diesen selben Euro in andere Optionen stecken würde, würde ich nicht nur mehr Treibhausgas-Reduktionen erwirken, sondern ich würde es vor allen Dingen schneller erwirken… Ich habe vor 2 Monaten… den Weltrekord für Solarenergie zitiert, was die Kosten betraf. Das war ein Angebot in Portugal Anfang des Jahres zu einem Euro-Cent die Kilowattstunde. Jetzt ist es schon wieder überholt. Jetzt ist der Weltrekord in Saudi-Arabien für unter 0,9 Euro-Cent die Kilowattstunde. Dafür kann ich kein Atomkraftwerk irgendwo auf der Welt betreiben. Das geht nicht… Das heißt: ich habe heute aus Klimaschutz-Bedürfnissen die Pflicht, meinen Euro so effizient einzusetzen, wie es geht.
Wenn wir in Deutschland spätestens ab 2038 unseren Energiebedarf zu 100 Prozent über Erneuerbare Energien decken wollen: Bekommen wir dann kein Problem mit der Flächenkonkurrenz für Windkraft, Solaranlagen und Co.?
Rita Schwarzelühr-Sutter: Wenn ich mir allein angucke, wie viele Dächer gar nichts haben, ist da ein riesiges Potenzial… Was bringt eigentlich die Leute zur Akzeptanz und zur Teilhabe? Wenn nicht nur die so genannten Häuslebauer davon profitieren, sondern auch Mieterinnen und Mieter! Wenn jeder auf seinem Balkon auch als Mieter seinen Strom machen kann, dann läuft das… Und mit den richtigen – auch gesetzlichen – Voraussetzungen… dass wir beim „Mieterstrom“ Verbesserungen auf den Weg bringen… bin ich mir sicher, dass das zu einem Projekt der ganzen Gesellschaft werden kann.
Unser Stromverbrauch wird in den nächsten Jahren weiter wachsen. Werden wir trotzdem genug Strom aus Erneuerbaren Energien haben?
Michael Müller: Bei dieser ganzen Diskussion kommt mir zu kurz, dass es nicht nur um den Umstieg auf erneuerbare Energien geht. Es geht genauso um drastische Reduktion von Energie- und Ressourcen-Nutzung… Wir müssen auch in bestimmten Bereichen Verzicht üben.
Luca Samlidis: Wenn wir in den Verkehr schauen, müssen wir darauf achten, dass es dort nicht nur darum geht, die bestehende PKW-Flotte, die wir auf Deutschlands Straßen haben, elektrisch zu fahren, sondern auch die PKWs insgesamt zu reduzieren…
Mycle Schneider: Das Ziel von Energiepolitik muss sein, die Menschen zu versorgen mit “intelligenter Energiedienstleistung“… Ein Beispiel: Man weiß, dass Solarzellen ab einer bestimmten Hitze an Effizienz verlieren. D.h. gekühlte Photovoltaik-Zellen produzieren besser… Wir haben eben über Flächenkonkurrenz gesprochen. Sie haben unendlich viele Bewässerungs-Kanäle auf dieser Welt. Wenn man über diese Bewässerungs-Kanäle Photovoltaik-Anlagen baut, hat das einen doppelten Zweck: Man kühlt die Photovoltaik-Anlagen über das Wasser und man vermeidet die Verdunstung von Wasser gleichzeitig.
Michael Müller: Für mich ist das Entscheidende, die Ökologie unmittelbar in technische und ökonomische Entscheidungen zu integrieren… Das ist auch die Leitidee der Nachhaltigkeit. Die Nachhaltigkeit war nie ein nachgeschaltetes System, wie heute nach wie vor die Umweltpolitik ist.
Wie kann die Energiewende auch sozial gerecht gestalten werden?
Luca Samlidis: Eine sozial gerechte Energiewende bekommen wir nur dezentral hin… Das heißt: regional Strom produzieren, möglichst regional Strom verbrauchen. Natürlich spielen Speichertechnologien eine große Rolle… Allerdings müssen wir sehen, dass die dezentrale Energiewende automatisch zu Akzeptanz in der Bevölkerung beiträgt. Wenn man vor Ort beispielsweise durch Genossenschaften, durch Bürgerenergie im Gesamten, eine Identifikation schafft, dann ist die Akzeptanz am Ende weitaus größer und der Strompreis liegt weitaus günstiger am Ende… als im fossilen Bereich… Die Energiewende kann sozial gerecht passieren! Gleiches gilt für den Verkehrsbereich: nicht durch höhere Benzinpreise aber nicht gleichzeitigem Ausbau des ÖPNV den Arbeitsweg schwerer machen! Wir brauchen ein ganzheitliches Denken… Das wird immer so als Konflikt aufgemacht, dass es heißt: Ja, wir müssen die Menschen mitnehmen und der schnellere Ausstieg aus der Kohle klappt nicht. Doch! Er klappt. Man muss es nur wollen! Und da ist die Politik auch in der Verantwortung, das entsprechend zu tun…Wer sich die Antworten in voller Länge ansehen möchte: hier unten folgt das Video.