Möglichst viel schaffen – in immer weniger Zeit.
Das ist der heutige Zeitgeist. Doch was unsere Gesellschaft wirklich braucht, ist Entschleunigung.
Ein Kommentar von Kristina zur Mühlen
Als ich gestern mit dem Fahrrad auf einem breiten Radweg fuhr, kreuzte plötzlich ein anderer Radfahrer ca. zwei Meter vor mir meine Spur. Hätte ich nicht gebremst, würde ich jetzt im Krankenhaus liegen. Noch heftiger als der Schreck, war seine Reaktion. Kein Sorry. Kein tut mir leid. Nichts dergleichen… Das machte mich wütend. Schimpfend rief ich ihm hinterher, was für ein Vollpfosten er sei. Nur schien ihn das nicht zu kümmern. Er hatte nur seine grüne Ampel im Blick. Die wollte er noch eben schnell schaffen. Das war wichtiger als alles andere.
Vorkommnisse wie diese erlebe ich ständig. Die Menschen sind nur noch mit sich selbst beschäftigt. Jeder bewegt sich in seiner eigenen Blase:
„Me first“.
Wie winzige Zahnrädchen in einem Uhrwerk verfolgt jeder das Ziel, möglichst viel in immer kürzerer Zeit zu schaffen. Wenn das gelingt, scheint man auch glücklich zu sein. Doch wie lange währt dieser Glückszustand? Kommt mein spezieller Fahrradfreund nachmittags glücklich nach Hause und erzählt, dass er um kurz vor 11 die grüne Ampel noch geschafft hat?
Das Kuriose ist, dass die Latte beim nächsten Mal wieder ein bisschen höher gehängt wird. Das genau ist der Kick. Mal sehen, ob das nicht auch noch zu schaffen ist. Immer schneller werden, immer mehr erreichen… in derselben Zeit.
Dieses Verhaltensmuster kommt nicht von ungefähr. Es hat eine Ursache. Dahinter steckt der Leistungsgedanke. Er ist so tief in uns verwurzelt, dass wir nicht bemerken, wie wir unser Berufsleben und unseren Alltag Stück für Stück beschleunigen. Wir rauschen mit Vollgas durch‘s Leben und halten das für selbstverständlich. Mit einem bedauerlichen Ergebnis:
Stress ist das neue Normal.
Trotzdem wollen wir besser und schneller sein als andere. Wie viel Spott schlägt Spitzensportlern entgegen, wenn sie nicht gewonnen haben. „Was? Kein Sieg? Nicht mal eine persönliche Bestleistung?! Das ist ja enttäuschend!“ Wie viele erfolgreiche Geschäftsleute nehmen Stärkungsmittel ein, um dem permanenten Leistungsdruck Stand zu halten? Wie viele brechen an Burnout zusammen. War es das wert?
Weil der Mensch physisch und psychisch an seine Grenzen kommt, bedient er sich des technischen Fortschritts. Und jetzt fragen Sie sich selbst, ob Sie Dank der technischen Innovationen jedes Jahr glücklicher werden. Fühlen Sie sich weniger gestresst als letztes Jahr?
Es ist Zeit, mal einen Gang runterzuschalten.
„The Winner takes it all“? Von wegen! Es ist Zeit für partnerschaftliches Denken. Es ist Zeit für Entschleunigung. Wir sollten uns wieder mehr Zeit für uns nehmen.