Gefangen im eigenen Körper
Stellen Sie sich vor, Sie sind im eigenen Körper gefangen. Ihr Geist ist hellwach – doch Ihre Muskeln weigern sich, irgendetwas für Sie zu tun… Sie können sich nicht mal kratzen, wenn die Nase juckt… So geht es Angela Jansen. Vor 23 Jahren wurde bei ihr die Krankheit ALS festgestellt. Inzwischen ist sie fast vollständig gelähmt. Sie kann nicht mehr sprechen und ist rund um die Uhr auf Assistenten angewiesen.
Direkt über ihrem Rollstuhl ist ein kleiner Monitor angebracht. Das ist ihr Draht nach außen. Auf dem Bildschirm ist ein Buchstabenfeld zu sehen. Genau wie bei einer Computer-Tastatur. Damit kann Angela Jansen kleine Textnachrichten schreiben. Und das geht so: während sie einen Buchstaben nach dem anderen binnen Millisekunden fokussiert, registriert eine Kamera ihre Augenbewegung. Eine Computerstimme liest den fertigen Text dann vor.
Malen mit den Gedanken
Das Telefonat mit ihr wird für mich zu einem nachhaltigen Erlebnis. Sie erzählt mir von dem Berliner Kunstprojekt, bei dem sie gerade auftritt. Das Kunstprojekt mit dem Titel „Ich male, also bin ich“ ist der eigentliche Grund meines Anrufs. Denn Angela Jansen kann malen: mit ihren Gedanken. „Brain Painting“ nennt sich diese Kunstform. Dahinter steckt pure Neurowissenschaft – angewendet für Menschen wie Angela Jansen, die sich nicht mehr bewegen können und endlich wieder malen wollen.
Die Idee stammt vom Künstler Adi Hoesle. Er wollte ein Werkzeug finden, mit dem ALS-Patienten künstlerisch tätig sein können. Also suchte er Unterstützung bei der Wissenschaft. Allerdings war es nicht leicht, als Künstler mit diesem Anliegen ernst genommen zu werden. Bis Adi Hoesle das Team um die Würzburger Psychologie-Professorin Andrea Kübler kennenlernte. Gemeinsam trieben sie die Idee voran, eine Mal-Software für Gehirn-Computer-Schnittstellen zu entwickeln.
Brain Painting – und wie geht das?
Und wie funktioniert dieses „Brain Painting“? Zunächst einmal erinnert das Künstler-Atelier an ein Labor, wo das EEG gemessen wird. Man setzt sich eine badekappen-ähnliche Mütze auf, die mit Elektroden bestückt ist. Während man auf einen speziellen Bildschirm schaut, messen die Elektroden die elektrischen Hirnströme. Auf dem Bildschirm findet man eine breite Auswahl an unterschiedlichen Symbolen vor. So kann man zwischen Formen, Farben und Pinseldicken wählen.
Nur: wie erkennt der Computer, dass man zum Beispiel als nächstes mit Rot malen will? Der Trick ist folgender: Man sucht sich auf der Farbpalette seinen Rot-Ton aus und wartet ab, bis ein Blitz über das entsprechende Farbfeld zuckt. Dieses Aufblitzen ist ein Reiz, der im Gehirn eine Reaktion auslöst und von den Elektroden registriert wird: die so genannte P-300-Welle. Und so erkennt der Computer, welche Farbe, Form oder Pinselstärke gewünscht wird.
„Keine Angst, ich beiße nicht!“
Zurück zu Angela Jansen. Sie erzählt mir, wie glücklich sie ist, dass sie Dank Adi Hoesle wieder malen kann. So wir ihr geht es auch anderen ALS-Patienten, deren Brain-Paintings in den vergangenen Wochen im Kleisthaus in Berlin ausgestellt wurden. Dort, am Sitz des Behinderten-Beauftragten, konnten Besucher der Ausstellung das Brain Painting auch selbst ausprobieren. Adi Hoesle hatte zu Workshops eingeladen. Die Kurse waren gut besucht.
Gleichzeitig integrierte der Künstler auch Angela Jansen in seiner Ausstellung. Als so genannte „Living Sculpture“ war sie Teil seines Gesamtprojekts. Mit ihrem Rollstuhl stand sie wie eine lebendige Skulptur in der Mitte des Raumes und wartete auf Reaktionen der Besucher. Doch nur wenige waren mutig, gingen auf sie zu und unterhielten sich mit ihr. Die meisten hatten sich nicht getraut, erzählt sie mir. Nicht mal ein Gruß war drin. Am liebsten hätte sie den Besuchern gesagt: ‚Keine Angst, ich beiße nicht!’
Wenig Erfahrung im Umgang mit Behinderten
Für viele Menschen sei es nicht einfach, aus der Anonymität des Unbeteiligtseins herauszutreten und sie anzusprechen, sagt Angela Jansen. Wenn nur ein einziges gutes Gespräch zustande kam, habe sich der Tag für sie schon gelohnt.
Warum haben wir diese Berührungsängste? Das frage ich auch die Würzburger Psychologie-Professorin Andrea Kübler. Uns fehlen ganz einfach wichtige Erfahrungen im Umgang mit Menschen, die ein Handycap haben – meint sie… Das sehe ich auch so. Und seien wir mal ehrlich: Ein Handycap zu haben, ist für die meisten von uns ganz weit weg. Dabei kommen nur 4 % der Behinderten mit Handycap auf die Welt, erfahre ich vom Behinderten-Beauftragten Jürgen Dusel, der von Geburt an stark sehbehindert ist. 96 % der Behinderungen würden im Laufe des Lebens erworben.
Trotzdem. Das Thema Behinderung ist für die meisten von uns kein Thema. Wir blenden es aus. Ich frage Angela Jansen, was sie darüber denkt. Sie wünsche sich weniger Mitleid und mehr Normalität von ihren Mitmenschen.
Kunst bringt Menschen zusammen
Ja! Mehr Normalität! Wenn wir eine moderne Gesellschaft sein wollen, brauchen wir „Inklusion“. Aber fragen Sie mal die Menschen auf der Straße, was sie unter dem Begriff „Inklusion“ verstehen. Nur wenige kennen die richtige Antwort. Inklusion heißt „einschließen“. Ich persönlich mag das Wort nicht. Ich finde es zu akademisch. Warum sagen wir nicht lieber „Miteinander“?
Immerhin hat die Ausstellung im Kleisthaus gezeigt, dass Kunst das Potential hat, Menschen mit und ohne Behinderungen näher zusammenzubringen – sagt auch der Behinderten-Beauftragte Jürgen Dusel und Gastgeber der Ausstellung. Kunst sei ein ganz wesentlicher Aspekt für mehr Teilhabe und Lebensqualität. Und dafür engagieren sich Menschen wie Adi Hoesle und Andrea Kübler.
Mehr Lebensqualität
Mehr Teilhabe, mehr Lebensqualität… Doch wie sieht die Realität aus? Neue Ideen scheitern oft an der Finanzierung. Für die Industrie lohnt sich die Umsetzung der Forschungsergebnisse nicht bzw. die Produktion von Technologie in kleiner Auflage. Es erkranken nicht genug Menschen daran, um mit neuen Anwendungen das große Geld zu machen.
Apropos Geld. Seit 424 Tagen wartet Angela Jansen auf einen neuen Rollstuhl. Einen modernen. Mit dem sie auch steuern könnte, in welche Richtung sie fahren will. Wie viel mehr Selbstbestimmung und Lebensqualität ihr das brächte! Doch sie ist abhängig von ihrer Krankenkasse – und die spielt auf Zeit. Und das heißt im Klartext: Seit 424 Tage führt Angela Jansen einen bürokratischen Streit mit den zuständigen Sachbearbeitern, in dessen Kern es um mehr Lebensqualität für die Patientin geht. Wie bitte!?! In welcher Gesellschaft leben wir? Ist das modern?
Perspektivwechsel vornehmen!
Jeder Sachbearbeiter und deren Vorgesetzte stelle sich bitte mal vor, er/sie wäre im eigenen Körper gefangen und rund um die Uhr auf das Wohlwollen anderer Menschen angewiesen. Selbst wenn es an der Nase juckt… Ich finde, es ist höchste Zeit für einen Perspektivwechsel! Für jeden von uns. Ich kann hierfür einen lohnenden Brain-Painting-Workshop empfehlen…
Am vergangenen Dienstag endete die BrainPainting-Ausstellung im Kleisthaus. Als ich zur Finissage komme, lerne ich Angela Jansen, Adi Hoesle, Andrea Kübler, die Kunsthinstorikerin Ursula Ströbele und den Behinderten-Beauftragten Jürgen Dusel persönlich kennen. Mir geht das Herz auf, als mich Angela Jansen mit strahlenden Augen empfängt und mir zeigt, wie sie mit ihren Augen kommuniziert. Zublinzeln heißt ja. Nach rechts schauen heißt nein. Ich lerne auch ihre wunderbare Tochter kennen, die sich liebevoll um sie kümmert. Wohl dem, der solche Kinder hat!
Angela Jansen lebt seit 23 Jahren mit ALS. Sie ist herzlich, hat Witz und hält sogar Vorträge. Sie will demnächst Schloß Neuschwanstein besuchen. Auf die Zugspitze will sie auch. Ich bin gespannt, ob die Krankenkasse bis dahin den Antrag auf ihren neuen Rollstuhl genehmigt hat…
Gespannt bin ich aber auch, welche Anwendungen durch die Zusammenarbeit von Künstlern und Wissenschaftlern noch geboren werden. Adi Hoesle arbeitet schon am nächsten Projekt. Es heißt „Brain Dancing“ – und soll das Gefühl vermitteln, virtuell zu tanzen. Für Angela Jansen ginge damit ein Traum in Erfüllung. Sie war früher Tangotänzerin.
28.09.2018